Rainer/Myrleans/Matthias Fan-FictionFolge 10 (Rainer) |
E-MAIL: Rainer - Hamburg
Diese Geschichte, in der er nun selbst beinahe feststeckte, musste unbedingt weitergehen. Es stand nur in Bastians Macht, dafür zu sorgen. Wer sollte es sonst können? Es gab hier niemand anderen, der dazu noch in der Lage war. Doch wie sollte er es anstellen? Bastian musste sich eine neue Geschichte für die Kindlichen Jäger ausdenken, um deren Dasein wieder einen tieferen Sinn zu geben. Wenn es wirklich die Figuren aus dem Comic waren, mit denen er jetzt als lebendige Wesen umging, dann gehörten sie nicht hierher. Sie waren Überlebende einer Katastrophe, die in Bastians Welt niemals stattfinden durfte. Er hatte Mitleid mit ihnen und mochte sie nicht in die feindliche, verseuchte Welt zurückschicken, in die sie eigentlich gehörten. Irgendwie hatte er sie in sein Herz geschlossen, mit allen ihren Merkwürdigkeiten. Und dann war da noch Leo, den Bastian quasi aus der Gruppe gedrängt hatte. Am nächsten Morgen, kurz bevor er aufwachte, hatte Bastian einen kurzen Traum. Es war mehr eine tonlose Vision aus Teils seltsam bekannten und noch nie gesehenen Bildern. Bastian flog über ein Meer oder See, dessen Oberfläche wie flüssiges Metall glänzte. Er flog immer höher und höher, bis am Horizont ein seltsames Gewirr aus Booten, Stegen und Bauten aus der metallischen Flüssigkeit herausragte. Irgendwie kam ihm alles merkwürdig bekannt vor. Das Zentrum dieser Stadt, ja es musste eine Stadt sein, bildeten sieben runde Türme, die absolut ebenmäßig rund und unermesslich hoch waren. Ein verwirrendes System aus Gängen und Röhren verband sie miteinander. Bastian hatte keine Vorstellung welchem Zweck diese Bauten dienten. Er konnte nicht wissen, das er damit das Ziel seiner Reise durch Phantásien gesehen hatte. Trotz der großen Höhe fühlte sich Bastian sicher und geborgen. Kein Lüftchen ließ ihn frieren. Ein wohliges Glücksgefühl rieselte durch seinen Körper. Der Traum endete, wie Bastian fühlte, das eine warme Hand über sein Gesicht strich und ihm dabei wieder die Augen schloß. Bastian erwachte. Er schlug die Augen auf und bemerkte, das es bereits hell wurde. Eine geheimnisvolle Stille lag in der Luft. Er horchte ins Dunkel des Zeltes hinein. Aus Dirks Ecke drang nur ein leises Schnarchen. Bastian stand auf und reckte die verschlafenen Glieder. Er atmete tief durch und trat ins Freie. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und in der Bachniederung stand noch etwas Morgennebel. Bastian ging zum Bach hinunter. Er war überrascht, dort auf Ibo zu treffen, der etwas gedankenverloren auf das leise fließende Wasser schaute. Ibo machte einen müden Eindruck. Das die Kinder Nachts Wachen aufstellten, war Bastian bislang entgangen. "Guten Morgen." begrüßte Bastian Ibo. "Morgen..." gab Ibo müde zurück "Was macht deine Prophezeiung?" Bastian schmunzelte instinktiv. Erst nach einer Weile fiel ihm ein, was diese Frage bedeutete. "Was hast Du gesagt?" fragte Bastian nach einer Weile. "Nichts." entgegnete Ibo. Für ihn war es wirklich nur ein Scherz. Doch Bastian begriff, dass sein größter Wunsch in Erfüllung gegangen war: Es gab eine Erinnerung an Gestern. Bastian hatte sie, Ibo - und die anderen ganz bestimmt auch. Nach und nach kamen alle hinunter zum Bach um sich zu waschen. Auch Bastian stand mit freiem Oberkörper im Wasser um sich zu erfrischen. "Du hast da was am Hals." sagte Dinka und tippte Bastian genau auf die Stelle, wo ihn das Gift der weißen Schlange getroffen hatte. "Bestimmt eine Verätzung. Ich hätte es damals besser abwaschen sollen." gab Bastian zurück. "Nein, sieht eher aus wie ein Zeichen!" Diese Feststellung sollte noch weitreichende Folgen für Bastian haben. Doch der versuchte erstmal, die Stelle auf seinem Rücken zu begutachten, was allerdings kaum gelang. Denn das Zeichen befand sich so zwischen Nacken und Schulter auf dem Rücken, das er es ohne Spiegel nicht sehen, sondern nur erfühlen konnte. "Es ist nichts mehr zu Essen da!" wurde bald festgestellt. Bastian beschloß, sich aktiv an der Nahrungssuche zu beteiligen. Und er hatte noch eine spontane Idee. Er wollte sich den Weg zu der eigenartigen‚ Schlucht ohne Wiederkehr beschreiben lassen. Noch etwas gab es zu klären. Bastian beobachtete Pascal genau, als er wie beiläufig erwähnte "Ich bin gespannt, wann Noah zurückkommt." "Tja, ich auch." antwortete Pascal. Bastian war erleichtert. Doch Pascals nächster Satz ließ ihn zusammenzucken. "Mir wäre es lieber wenn er den Kopf von dem Idioten mitbringt." "Wieso?!" Pascal brummte unwirsch, drehte sich um und murmelte im Fortgehen so etwas wie "...das wirst du wohl nie verstehen." Der Hunger wurde größer. Um etwas zwischen die Zähne zu bekommen mussten sie auf die Jagd gehen und außerdem Beeren, Früchte und andere essbare Dinge sammeln. Bastian grauste es vor dem Gedanken, sich gegen Mittag wieder mit einem Gefangenen abgeben zu müssen. Und so versuchte er die Arbeitseinteilung so zu beeinflussen, dass es nicht zu der gleichen Konstellation kam, die gestern gemeinsam losgezogen war. Vor allem wollte er keine Kaninchen mehr sehen. Nein, Bastian dürstete es nach Größerem. Die zu erwartende Fleischmenge würde dann auch bestimmt für mehrere Tage reichen. Ihm gelang es tatsächlich die Kindlichen Jäger von dieser Idee zu überzeugen. Schließlich brachen sie auf. Bastian schloß sich Pascal an. Der sollte nicht auf die Jagd, sondern Pflanzen und Früchte sammeln. Die beiden teilten sich ihre aus mehreren Beuteln bestehende Last und gingen los. Sie fanden reichlich, wonach sie suchten. Bastian kostete hier und naschte da, alles was Phantásien zu bieten hatte schmeckte wunderbar. Ihm war, als sähe er plötzlich Dinge, die ihm vorher nie aufgefallen waren. ‚Niemand muss hier verhungern. Man muss nur richtig hinsehen und zulangen.' dachte er bei sich. Ob es hier noch andere Lebewesen gab? Jedenfalls ließ sich zur Zeit niemand von denen blicken. Pascal kannte sich außerordentlich gut aus und zeigte Bastian was man essen konnte und was man lieber nicht anrühren sollte. Es war schwierig alle Formen und Farben zu beschreiben. Jedenfalls hatte kaum etwas Ähnlichkeit mit dem Gemüse, welches Bastian aus der Menschenwelt kannte. Nach einer ganzen Weile konnte er seine quälende Neugier nicht mehr bändigen und hielt inne. "Pascal, ich wollte dich schon die ganze Zeit etwas fragen." Der Angesprochene blickte gar nicht auf und antwortete nur kurz "Schieß los." "Wo IST eigentlich diese Schlucht ohne Wiederkehr?" Pascal erhob sich verwundert. "Du willst mich doch nicht im Stich lassen?" "Nein. Ich will nur wissen wie man dorthin kommt." "Die ist gar nicht so weit weg. Aber du solltest wissen, das sie diesen Namen auch wegen einem anderen Grund trägt. Man sagt, das alle die dort allein hingehen wollen niemals wieder zurückkehren. Aus diesem Grund sind wir immer mit mehreren Leuten dorthin gegangen." "Das klingt zwar so, als ob du mich damit abschrecken willst. Aber ich möchte immer noch wissen, wie man dahin kommt. Und wenn es dich beruhigt, ich kann ja einen Beutel mitnehmen. Vielleicht finde ich auf dem Weg ja noch viel größere Sachen." Pascal kam langsam auf Bastian zu. Als er stehenblieb atmete er tief durch und sah Bastian sehr ernst an. "Nun gut, Bastian. Wenn es alles ist, was du willst? Gehe immer der Sonne entgegen nach Süden. Irgendwann werden die Bäume immer kleiner werden und schließlich wird dort gar nichts mehr wachsen. Kurz bevor die Geröllwüste anfängt, kannst du übrigens mal nach den Grünen Beeren suchen. Die wachsen nur da. Du musst allerdings aufpassen, das es keine bitteren sind. Wenn sie bitter schmecken musst du die Früchte von einem anderen Strauch nehmen. Iss nicht zuviele davon, am besten erst wenn du wieder zurück bist. Und versprich mir, geh' nicht an den Abgrund. Allein ist das zu gefährlich. Wir wissen nicht, ob da noch jemand lebt, oder was es ist. Aber alle sagen, das man sich vom Abgrund fernhalten soll." Bastian versuchte alle Informationen aufzusaugen. Als Pascal fertig war, schwiegen die Beiden eine Weile, bis Bastian kurz "Danke." sagte und sich umdrehte. "Bastian!" rief Pascal ihm hinterher. Der Angesprochene drehte sich im Gehen nochmal um und ließ ein leicht genervtes "Ja?" hören. "Wir brauchen dich. Mach' nicht solange und komm' bitte unbedingt wieder! Versprich es!" forderte Pascal. "Na, wenn ihr so großen Wert auf mich legt. Ja, ich verspreche es, ich werde es versuchen." gab Bastian zurück. Er drehte sich wieder um und ging. Vorher hatte er sich noch einen Beutel gegriffen, den er sich über die Schulter warf. Seinen Weg musste er sich selbst suchen, denn es gab keinen. Bastian kämpfte sich durch das Gestrüpp. Er hatte ein unwohles Gefühl. Schließlich wollte er ja tatsächlich zurückfinden. Er hielt Ausschau nach Essbarem. Allerdings, wenn er etwas gefunden hatte, verbrachte er mehr Zeit damit zu naschen, als zu sammeln. Und überhaupt war es wohl keine gute Idee alles durcheinander in den Beutel zu schmeißen. Wenn er von der Schlucht wiederkam, sollte er ja ein paar von den Grünen Beeren mitbringen, die Pascal beschrieben hatte. Das musste reichen, entschied Bastian. Alles andere wurde vom herumtragen auch nicht besser. Er kämpfte sich weiter vorwärts. Es lohnte sich. Bald wurde das Unterholz lichter und das Fortkommen ging leichter. Und dann entdeckte Bastian etwas, was seine Aufmerksamkeit völlig fesselte. Er kniff ein paar mal die Augen zusammen, weil er kaum glauben konnte, was er sah. An einer mit Gräsern bewachsenen Stelle, wo etwas mehr Sonne auf den Waldboden schien, weidete sich ein weißes Einhorn. Er versuchte näher zu kommen und sah, das er sich nicht getäuscht hatte. Bastian war unglaublich fasziniert von dem, was er sah. Das Einhorn war nicht besonders groß, vielleicht ähnelte es von der Größe einem Reh. Bastian hatte sich Einhörner immer als eine Art Pferd vorgestellt. Gesehen hatte er aber noch nie eines. Das Tier war vollkommen arglos. Obwohl Bastian sich zum Teil sehr unbeholfen näher schlich, ergriff es nicht die Flucht. Er stand jetzt wirklich sehr nah. "Das gibt's doch nicht..." flüsterte er staunend. Das Einhorn hob den Kopf und drehte ihn in Bastians Richtung. ‚Jetzt wird es gleich abhauen!' dachte dieser bei sich und gab seine Deckung auf. Doch das Tier dachte nicht an Flucht. "Ein kleines, zutrauliches Einhorn." flüsterte Bastian. Das Tier ging ein paar Schritte auf Bastian zu. Der traute sich kaum mehr zu atmen - aus Angst, dieser seltene Anblick könnte sofort vorbei sein. Etwa fünf Meter vor Bastian blieb das weiße Einhorn stehen. Es war wirklich nicht groß und wirkte dadurch sehr zierlich und elegant. Das eindrucksvollste an ihm war tatsächlich das etwa dreißig Zentimeter lange, graue Horn, welches ihm anstelle eines Geweihs aus dem Hinterkopf wuchs. Das Tier schien Bastian gründlich zu mustern. Und schließlich vernahm Bastian eine feine Stimme sagen "Natürlich bin ich ein Einhorn. Aber klein und zahm? Wir sind alle nicht größer." Bastian überraschte es inzwischen nicht mehr ganz so stark, das er das Einhorn verstehen konnte. Es sprach wie alle Geschöpfe hier Phantásisch. Die Fähigkeit, diese Sprache zu verstehen, hatte er ja erst kürzlich wiedererlangt. "Na ja. Ich hab immer gedacht, das ihr größer seid. Und ein wildes Tier läuft doch sofort weg, wenn es einen Menschen wittert. Weil es scheu ist." antwortete Bastian etwas verlegen. "Sehe ich etwa aus wie ein wildes Tier?" gab das Einhorn entrüstet zurück "Dich habe ich mir auch immer etwas kleiner vorgestellt, Bastian Balthasar Bux." -- "Was? Du kennst meinen Namen?" Bastian war verblüfft. "Fast alle Wesen Phantásiens kennen die Namen der Retter. Um sie ranken sich viele Legenden. Sie besagen, das Bastian Bux ein kleiner Junge ist. Aber das ist viele, viele Generationen her." "Woher bist du dir so sicher, das ich es bin?" "Wir sind zwar nur Geschöpfe, die du in der Menschenwelt Tiere nennst. Aber wir spüren mehr als du dir vorstellen kannst. Und ich spüre das du es tatsächlich bist. Und ich bin froh, das ich einem Retter einmal begegnen durfte. Ach, jetzt habe ich es ganz vergessen. Mein Name ist Rieka." "Rieka - ein schöner Name." fand Bastian. "Findest du das?" Rieka musste ein weibliches Einhorn sein, war sich Bastian sicher. "Hast du gar keine Angst?" fragte er. "Angst, wovor?" "Hier in der Gegend leben die Kindlichen Jäger. Und ich weiß genau, das sie auf der Jagd sind." "Ach, weißt du Bastian. Wenn es nur die Angst zu sterben ist, auf die du hinaus willst. Wir Einhörner sind friedliche Tiere. Auf uns lauern viele Gefahren, hier und überall. Jeder von uns akzeptiert, das das Sterben genauso zum Leben gehört, wie dessen Entstehung. Und wenn meine Zeit gekommen ist, werde ich meinem Schicksal gelassen entgegensehen. Ändern können wir den Lauf der Dinge sowieso nicht. Und wenn es meine Bestimmung ist für eine Jagd zu sterben, so weiß ich schon jetzt, das ich in den Jägern weiterleben werde und das mein Tod dazu beiträgt, anderes Leben zu erhalten." "Ich will nicht, dass du durch die Jäger stirbst! Lauf weg oder bring' dich in Sicherheit! Du bist so kostbar und - ich sehe zum ersten Mal ein Einhorn. Also muss eure Rasse ziemlich selten sein." "Mach dir keine Sorgen, Bastian. Ich habe feine Sinne und einen Instinkt, auf den ich mich verlassen kann." Das Einhorn musste zweifellos das weiseste seiner Art sein. Die Gelassenheit mit der es seinem Schicksal entgegensah, rang Bastian einen gehörigen Teil Bewunderung ab. Soviel Todesverachtung wünschte er sich auch. "Woher weißt du das alles?" fragte Bastian. "Du bist skeptisch und voller Misstrauen. Doch du hast keinen Grund, es zu sein." "Entschuldige, aber das ist mir alles ein bißchen zu philosophisch für ein Einhorn." "Aber Bastian? Du hast doch selbst vor langer Zeit von der Unendlichen Geschichte erzählt. Und dass alles Teil eines sagenhaften Buches ist. Auch die anderen Retter haben davon gesprochen." Bastian versuchte sich zu erinnern. Es war gut möglich, das er den phantásischen Geschöpfen in seiner Kindheit in einem Anflug von Größenwahn verraten hatten, warum sie existierten. Aber warum sprach das Einhorn von den Rettern in der Mehrzahl? "Was heißt die anderen Retter?!" brauste Bastian auf. "Ich bin der Retter von Phantásien!" Kleinlaut fügte er hinzu: "Gewesen." "Bastian, warum bist du so verbittert? Du bist vor vielen Jahren der erste nach langer Zeit gewesen. Doch nach dir kamen noch viele andere. Und alle haben ihren Teil dazu beigetragen, dass Phantásien heute so ist, wie es ist. Ich bin keinem einzigen von ihnen jemals begegnet, aber man erzählt sich, das eine zeitlang Menschenkinder so rar in Phantásien waren, das jedes mit ‚der Retter' bezeichnet wurde. Sei nicht traurig, du warst sehr wichtig." "War - wichtig. Die Betonung liegt auf ‚war'!" Bastian war geknickt. Als Erwachsener hatte man es schwer in Phantásien. Je mehr er sich das einredete, desto mehr glaubte er selbst daran. "Mach dir keine Sorgen, Bastian." wiederholte Rieka. Sie versuchte ihn zu trösten, doch für Bastians Mißstimmung wusste sie keine Erklärung. Irgendetwas hatte Rieka an sich, was Bastian regelrecht rasend machte. War es diese wissende Gelassenheit und Ruhe? Gegenüber dem Einhorn war er selbst ein Nervenbündel, glaubte Bastian. Und was er als regelrecht demütigend empfand, war, dass er den Ausführungen Riekas nichts gleichwertiges entgegenzusetzen hatte. Alles war so anders als früher. Er fühlte sich nicht souverän und machtvoll, sondern nur hilflos und ein wenig deplaziert. Doch dann erinnerte er sich, dass er noch etwas anderes vorhatte. Wenn er sich als erstes verabschiedete und diesen Platz verließ, würde er sich wieder ein wenig als Sieger fühlen können. "Ich wünschte, ich hätte deine Gelassenheit." brach es aus Bastian heraus. "Du wünscht es dir? Gut. Gelassenheit kann manchmal sehr nützlich sein." erwiderte Rieka. "Und wie soll das gehen? Ohne Auryn?!" gab Bastian zurück. Rieka beäugte ihn kritisch. "Tatsächlich. Du hast es doch hoffentlich nicht verloren?" - "Quatsch! Ich habe es gar nicht bekommen!" Rieka sah betroffen drein. Sie verstand nicht, aus welchem Grunde Bastian das Auryn versagt blieb. Doch dem fiel etwas anderes ein. Er zog ein wenig den Halsausschnitt seines Hemdes herunter, so das die Stelle sichtbar wurde, an der ihn das Gift der weißen Schlange getroffen hatte. "Kannst du damit etwas anfangen?" fragte Bastian. "Nein. Was soll das sein?" fragte Rieka zurück. "Ich wüsste gar zu gern, was es bedeuten soll." - "Nein, Bastian." seufzte Rieka "Ich kann dir nicht helfen." Ein wenig hatte sich Bastians Antipathie gegen das Einhorn gelegt. Doch nun wurde es Zeit weiterzugehen. "Rieka, ich muss leider weiter. Ich möchte mir heute noch die ‚Schlucht ohne Wiederkehr' ansehen. Vielleicht sehen wir uns ja mal irgendwann wieder?" Doch Rieka erschrak regelrecht, als Bastian ausgesprochen hatte. "Bastian, du willst ganz allein zum Abgrund? Niemand traut sich dort freiwillig hin. Es heißt, jeder der es versucht, wird nie mehr zurückkehren!" - "Daher auch der Name: Schlucht ohne Wiederkehr:" schlussfolgerte Bastian. "Nein!" setzte Rieka fort "Warum willst du dorthin? Dann werden wir uns wohl nicht wiedersehen." Rieka schien traurig zu sein. "Ich MUSS da hin." sagte Bastian "Ich fühle es. Ich muss die Kindlichen Jäger aus ihrer feststeckenden Geschichte befreien." Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: "Nimm dich in Acht vor den Kindlichen Jägern! Sonst sehen wir uns wirklich nicht mehr wieder." schloss Bastian ironisch. "Einen Menschen kann niemand aufhalten." antwortete Rieka. "Wenn es dein Wunsch ist, dann werde ich dir alles Glück wünschen, das du brauchst. Ich für meinen Teil kann auf mich selber aufpassen." Bastian atmete tief durch. "Viel Glück, Rieka. Auf Wiedersehen." verabschiedete er sich von dem weißen Einhorn. "Viel Glück, Bastian. Wir werden sehen." sprach Rieka, drehte sich um und war mit ein paar kräftigen Sprüngen Bastians Blicken entschwunden. Nun war sie doch als erstes gegangen. Doch Bastian fühlte sich keineswegs mehr als Unterlegener. Er setzte seinen Weg zur Schlucht fort, so wie Pascal in beschrieben hatte. Seine größte Angst war, im Kreis zu laufen. Seinen Weg musste er sich selbst suchen, denn kein Pfad führte in die gewünschte Richtung. Mittlerweile wurden die Bäume tatsächlich kleiner und krüppeliger. Es war der richtige Weg. Der Untergrund wurde steiniger und einige Male knickte er mit dem Fuß um, weil das lose Gestein unter seinen Tritten nachgab. Schließlich wuchs gar nichts mehr an seinem Weg. Vor Bastian breitete sich eine Felswüste aus. Doch von einer Schlucht war nichts zu sehen. Die Landschaft vor ihm lag etwas tiefer. Genauso, wie Pascal es beschrieben hatte. Von hier hatte man etwas Überblick. Bastian musste dieses Gelände wohl oder übel durchqueren. Je mehr er in die felsige Landschaft hinabstieg, desto mehr verlor er den Überblick. Die Felsblöcke wurden selbst für einen Erwachsenen immer größer und bedrohlicher. Und er musste sich ja auch noch seinen Weg suchen. Die Sonne brannte unbarmherzig. Im Schatten war es auszuhalten. Alle anderen Stellen waren aufgeheizt und strahlten die Wärme ab, die sie durch die Sonne aufgenommen hatten. Bastian schwitzte und kämpfte sich verbissen vorwärts. Die Gedanken an den Rückweg verdrängte er. Nur nicht die Richtung verlieren. Von Zeit zu Zeit suchte er sich neue Fluchtpunkte am Horizont. Wenn er einen erreicht hatte und sich umsah, so hatten sich vor ihm wieder neue Kämme und Spitzen aufgetürmt. Bastian kletterte über abgrundtiefe Spalten, die er in seiner Welt niemals betreten hätte. Kein Hinweis, kein Zaun und kein "Betreten verboten!"-Schild gaben ihm eine Ahnung, ob der eingeschlagene Weg richtig oder falsch, gefährlich oder unbedenklich war. Das machte ihm ein wenig Angst. Zumindest kamen Bastian Zweifel, das Richtige zu tun. Wer würde ihm helfen, wenn ihm hier etwas zustieß? Die sengende Sonne am Himmel war das einzige, worauf er sich verlassen konnte. Selbst die Landschaft schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Nein - nur nicht die Richtung verlieren. Doch wie waren die kindlichen Jäger mit ihren Opfern an die Schlucht gelangt? Dieser Weg war dafür jedenfalls viel zu beschwerlich. Es musste noch andere geben. Bastian hoffte diesen auf dem Rückweg zu finden. Er konnte kaum sagen, wie lange er sich durch diese Wüste gekämpfte hatte. Aber seine Mühe wurde belohnt. Bastian sah schon von weitem, das sich ein gewaltiger Riss durch die Landschaft zog. Je näher er kam, desto mehr öffnete er sich. Und er wurde immer gewaltiger und tiefer. Das war also die Schlucht ohne Wiederkehr? Sie musste einen Kilometer breit sein. Ihre Ränder fielen fast senkrecht in die Tiefe. So tief, das kein Tageslicht den Grund der Schlucht sichtbar machte. So etwas hatte Bastian noch nie selbst gesehen. Ihm lief ein Schauer über den Rücken und eine merkwürdige Mischung aus Beklommenheit und Faszination bemächtigte sich seiner Gefühle. Das die Schlucht solche Dimensionen besaß, damit hatte er nicht gerechnet. Und trotzdem traute er sich näher an die Kante heran, wo es steil in die Tiefe ging. Er fand bald eine ebene Stelle, die einigermaßen waagerecht an die Schlucht stieß. Er hatte ein wenig Angst, möglicherweise einen überhängenden Fels zu betreten, der abbrechen und hinabstürzen könnte. Doch seine Faszination war größer. Vielleicht war es auch bloße Neugier. Er näherte sich vorsichtig der Abbruchkante, bis ihn nur noch ein kleiner Schritt davon trennte. Was für ein Ausblick! Die tiefe Schwärze, die den Boden der Schlucht unsichtbar machte, ließ Bastian ein wenig taumeln. Es gab keinen Fixpunkt da unten. Jeder Blick verlor sich in dem schwarzen Nichts, bis er an den Seiten der Schlucht wieder halt fand. ‚Was mag da unten sein?' fragte sich Bastian. Er fühlte wieder dieses eigenartige Machtgefühl in sich aufsteigen. Er hatte die Macht noch einen Schritt weiter zu gehen - oder auch nicht. In der Menschenwelt wäre es das Ende, hier war es beinahe wie eine Option. Als was Bastian wohl wiederkehren würde, wenn er nicht mehr er selbst sein dürfte? Wie war das überhaupt zu verstehen? "Ich würde es nicht tun. Du erledigst damit dich selbst und Phantásien gleich mit." Wer hatte das gesagt? Bastian drehte sich erschrocken um und wäre fast ins Rutschen gekommen. "Wieso denkt eigentlich jeder, dass ich mich ständig umbringen will?!" schrie Bastian und in seinem Zorn übertrieb er absichtlich. Er erblickte einen bärtigen, alten Mann. Sein Blick war freundlich und nachdem er Bastian einen Augenblick gemustert hatte, sagte er: "Es wäre schön, wenn es nicht so wäre." Bastian fühlte sich wie überfahren. Normalerweise wäre er jetzt grob geworden und hätte dem Alten irgendeine flegelhafte Bemerkung entgegengeschleudert. Bastian überlegte, wie er seine Frage an den Alten formulieren sollte. Ein ‚Was willst du?!!' schien ihm nicht angebracht. "Bist du wegen mir gekommen?" brachte Bastian schließlich heraus. "Allerdings. Mein Name ist Opui. Ich bin gekommen, um dir ein wenig auf die Sprünge zu helfen." Opui? Bastian dachte nach. "Du hast ihn in dem Buch gelesen. Kurz bevor du selbst hierher kamst." Opuis Stimme klang, als würde er den Unterrichtsstoff eines Schülers wiederholen. Erwachsene waren ihm suspekt, da er sie nur schwer durchschauen konnte. Obwohl Opui über magische Kräfte verfügte und sogar Gedanken lesen konnte. Viele Erwachsene - und neuerdings auch Kinder - waren nämlich durcheinander und vergaßen deshalb sehr viel. Eine unstrukturierte, menschliche Gedankenwelt überforderte Opui einfach. "Ich wollte da nicht runterspringen. Wozu sollte ich mich umbringen?" gab Bastian von sich. "Aber den Gedanken fandest du ganz reizvoll, nicht?" fragte Opui zurück, und setzte fort: "Haben dir die Kindlichen Jäger von dem Geheimnis der Schlucht erzählt?" "Ja. Es gibt keine Wiederkehr. Alle, die springen, verlassen Phantásien sofort und können es in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht mehr betreten." antwortete Bastian. "Das gilt für Menschenkinder." ergänzte Opui "Die Kindlichen Jäger sind ein verrohter, barbarischer Haufen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wen sie schon alles hier hineingeworfen haben. Und es waren nicht nur Menschen darunter. Es ist ihr Ritual. Der erste, der dem entging, war Pascal. Aber der steckte bald auch fest. In seiner eigenen Geschichte gefangen! Etwas schlimmeres kann es nicht geben, in Phantásien. Ohne es zu merken, gefangen zu sein in seiner eigenen Geschichte. Wenn dieser Zustand lange genug anhält, verliert es seinen Verstand..." Opui verfiel in trübsinniges philosophieren. "Du kennst sie alle?" unterbrach ihn Bastian. Opui stutzte erst. "Ja, natürlich! Als Zauberer kommt man weit herum. Und man erfährt so einiges." Der Alte merkte, dass Bastian etwas gelangweilt dreinschaute. Doch was er Bastian erzählen musste, brannte ihm auf dem Herzen. Er musste es jedem Menschenkind erzählen, das er traf."Diese Schlucht ist der Fluch von Phantásien! Niemand sollte jemals ihr Geheimnis erfahren. Aber angefangen hat alles vor vielen Jahren mit diesem fürchterlichen Experiment." Jetzt, da Opui nicht mehr belehrend wirkte, begann sich Bastian wieder zu interessieren. "Welches Experiment?" "Es ist bereits sehr lange her, das ein Zeitforscher Namens Algolon die wahnwitzige These aufstellte, dass das Nichts, die Große Leere, endlich sei. Und dass auf deren anderen Seite eine völlig neue Welt existieren würde. Ein Menschenkind und ein Glücksdrache wurde seinerzeit losgeschickt um diese These zu beweisen. Sie sind nie zurückgekehrt! Bei der goldäugigen Gebieterin der Wünsche - ich hoffe nur, das sie nicht lange leiden mussten. Aber dass dabei ein Glücksdrache sterben musste..." - "Gábar." warf Bastian ein. "Genau, er hieß Gábar. Woher kennst du ihn?" Doch Opui wartete nicht auf Bastians Antwort, der ohnehin keinen Versuch mehr unternahm, den Redefluss des weisen Zauberers zu stoppen. "Das war ein großer Fehler! Ein unverzeihliches Experiment! Und als andere Menschenkinder davon erfuhren... Professor Algolon wurde hart bestraft. Mit Recht, wie ich finde." streute Opui eine persönliche Bemerkung ein. "Die Akademie der Oberen Zehn erkannte ihm seinen Titel ab und schickte ihn in die Verbannung. Niemand weiß was aus ihm geworden ist. Und damals war er schon 133 Jahre alt." Opui entdeckte ein leises Schmunzeln in Bastians Gesicht. "Findest du das etwa lustig?!" empörte sich Opui "Eine Katastrophe war das! Jawohl! Und als ein paar besonders faule und gelangweilte Menschenkinder herausgefunden hatten, das sie ihrer Geschichte auch vorher entwischen konnten - ohne sie vernünftig zu Ende zu bringen - da fing das neue Unglück an. Und wenn niemand mehr seine Geschichte zu Ende bringt, wird bald ganz Phantásien erstarren und alle die sich darin befinden, werden in alle Ewigkeit gefangen sein. Und das wird schneller gehen als du denkst, Bastian Balthasar Bux." endete Opui vorerst. "Du kennst meinen Namen?" wunderte sich Bastian und ein peinliches Gefühl durchzuckte ihn. Er hatte ganz vergessen sich vorzustellen. "Entschuldigung." sagte Bastian verlegen. Opui wackelte gnädig mit dem Kopf. In der Hinsicht war er Kummer gewohnt. "Dann ist die Schlucht ohne Wiederkehr so eine Art Notausgang?" fragte Bastian. "Exakt!" antwortete Opui. Bastian blickte noch respektvoller in die Schwärze, die den Grund der Schlucht unsichtbar hielt. Sie musste unendlich tief sein. So tief, das sie buchstäblich im ‚Nichts' endete. Keine Menschenseele vermochte sich diese Tiefe vorstellen, geschweige was sich dort unten befand. Bastian traute sich nicht mehr so dicht an die Kante heran. Er konnte nicht sagen, ob es Respekt oder doch Angst war. "Aber in einem muss ich dir widersprechen. Das Menschenkind hat nämlich überlebt." sagte Bastian. "Was faselst du da für törichtes Zeug?!" Opui klang ärgerlich. "Das Experiment mit dem Menschenkind, dem Glücksdrachen und der Großen Leere - ich bin mir ziemlich sicher, das du Lukas meinst. Und der hat überlebt. Allerdings ist er tatsächlich aus seiner Geschichte herausgekommen. Ich habe ihn jedenfalls vor ein paar Tagen getroffen und er lebt." Opui stand da wie vom Blitz getroffen. Er konnte kaum glauben, was er da hörte. Seine Augen begannen zu glänzen. Doch noch behielt seine Skepsis Oberhand. "Vielleicht hat Gábar ja auch überlebt? Irgendwo." wagte Bastian zu behaupten. "Das wäre ja ungeheurlich - das wäre die schönste Nachricht seit langem!" Opui wurde etwas euphorisch: "Wo ist er, dieser Lukas? Ist er wieder hier? Wenn du ihn kennst, dann sorge dafür, das er zurückkommt und zu Ende bringt, was er begonnen hat. Allein die Erkenntnis für die Wissenschaft. Professor Algolon..." "Aber - ICH bin jetzt hier!" merkte Bastian an. Er fiel dem Alten ins Wort, bevor dieser erneut abschweifen konnte. "Hm, ja. Genau." Opui räusperte sich. "Auch wenn du gute Nachrichten bringst. Aber eines solltest du wissen, bevor du dich völlig in deinen Erinnerungen verlierst, Bastian. Es gibt in Phantásien keine Nostalgiereisen für wehmütige Menschenkinder!" Bastian rümpfte die Nase und zog die Augenbrauen herunter. Opuis Gesicht blieb ernst und reglos. "Ich weiß, warum du gekommen bist. Es ist schön, das du es aus eigenem Antrieb getan hast. Aber ich muss dir sagen, das alles andere nicht so funktionieren wird, wie du es dir vorstellst." Bastian dämmerte, worauf Opui hinaus wollte. Worauf hatte er sich bloß eingelassen? Er schwankte, ob es nun eine gute Idee gewesen sein mochte, das Buch der unendlichen Geschichte erneut zu lesen. Er ahnte, das es mit einem gemütlichen Wiedersehen mit den Geschöpfen seiner Kindheit wohl nichts werden würde. Seinen Wunsch Atréju wiederzusehen, sah er ebenso in weiter Ferne verschwinden, wie sein Begehren, herauszufinden, was aus Bastians Bibliothek in Amarganth geworden war. Eine völlig neue Geschichte wartete auf ihn. Alles, was ihm widerfahren könnte, war weder plan- noch vorhersehbar, weil noch nie zuvor geschehen. Diese Tatsache machte Bastian Angst. Geschichten für Erwachsene waren oft grausam, voller Gewalt - oder absolut langweilig. So hatte er sich den Ausflug in seine Erinnerungen nicht vorgestellt. Stattdessen fühlte er, eine Suche mit ungewissem Ausgang anfangen zu müssen. Warum fragte niemand, ob er überhaupt Lust dazu hatte? "Und wie wird es denn funktionieren?" fragte Bastian nach diesem Moment der Grübelei. "Es wird in deinen Ohren ein wenig seltsam klingen, aber du darfst nie versuchen, keine Fehler zu machen." Bastian guckte irritiert. "Erwachsene bilden sich soviel ein auf ihre Erfahrungen. Dabei merken sie nicht, wie sie sich damit selbst im Weg stehen. Vergiss deine Erfahrungen! Öffne dein Herz wieder soweit, wie du es als Kind getan hast. TU WAS DU WILLST! Ich hoffe, du hast damals verstanden, was damit gemeint ist?" - "Ja natürlich." beeilte sich Bastian zu versichern. Das Auryn! Bastian hatte es beinahe vergessen. Ihm war es versagt geblieben, diesmal. Vielleicht wusste der Alte mehr darüber? Opui sah Bastian kritisch an. "Wirklich?" Der Alte ließ nicht locker. Bastian setzte an: "Ich soll mir nur das wünschen, wonach ich wirklich strebe. Denn nur durch meine Wünsche komme ich in meiner Geschichte voran. - Und ich werde alles unnötige auslassen. Sonst vergesse ich wieder zuviel, bis ich zurückkomme." Opui brummte verstimmt. Ihm schien nicht recht zu gefallen, was Bastian da von sich gab. "Erwachsene neigen zu Rationalität und Pragmatismus. Doch woher willst du wissen, was unnötig ist? Woher willst du wissen, was falsch ist, wenn du keine Fehler machst? Weißt du selbst überhaupt, wer du bist?" - ‚Nun fängt der auch noch so an!' dachte Bastian bei sich. "Ich bin Bastian Balthasar Bux. Ich bin Schriftsteller und ich fühle mich ausgebrannt und einsam." "So so. Das glaubst du, bist du also?" entgegnete Opui. "Niemand weiß, wer er wirklich ist. Und selbst wer es einmal erfahren hat, kann sich nicht lange sicher sein. Die Menschen verändern sich, unmerklich für sie selbst." Bastian hatte das Gefühl, das Opuis einzige Aufgabe darin bestand ihn durcheinander zu bringen. Er fühlte sich verunsichert. Am liebsten hätte er Opui fortgejagt. Wer weiß, wie tief der schon in seinen Gedanken gelesen hatte. Bastian besaß schon lange keinen Respekt mehr vor Magiern, doch Opui brachte ihm zurück, was er lange überwunden glaubte. Bastian fürchtete sich vor Hypnose und er glaubte, das genau das Opui mit ihm gerade anstellte. "Gut." gab Bastian zurück "Wenn du glaubst, das mir deine Ratschläge helfen werden, dann verspreche ich dir, sie zu befolgen." "Das werden sie." versicherte Opui. "Und was soll ich nun hier?!" Opui war erst ein wenig verwirrt, ehe ihm Bastians Frage klar wurde. "Junger Freund, so funktioniert diese Welt nicht. Du musst das schon selbst herausfinden." - ‚Wenn ich anständig auf dich einprügel, wirst du es mir schon verraten.' Bastian hatte kaum diesen Gedanken zu Ende gedacht, als ihm ein gewaltiger Schmerz in die Flanken fuhr, das er laut aufschrie. "Du bist ganz schön ruppig geworden!" bemerkte Opui spitz. Insgeheim bereute er, das er Bastian seine Macht hatte spüren lassen. Und dieser merkte, dass es nur Opui gewesen sein konnte, der ihm das angetan hatte. "Wenn das das Geringste ist, was mir hier widerfahren könnte, dann Gute Nacht!" entfuhr es Bastian "Niemand schützt mich vor solchem Zauber! Ohne Auryn bin ich allen Gefahren Phantásiens schutzlos ausgeliefert! Warum habe ich es nicht bekommen?!" fragte Bastian vorwurfsvoll. "Das ist eine interessante Frage." antwortete Opui "Es wird behauptet, das Auryn existiert nicht mehr. Aber das ist falsch. Andere sagen, die beiden Schlangen haben sich getrennt. Wieder andere sagen, es gibt einen Zusammenhang mit den feststeckenden Geschichten. Aber warum? - Das weiß keiner." "Es bekommt also niemand mehr den Glanz? Niemand?!" rief Bastian enttäuscht. "Ich weiß es nicht. Ich habe es schon sehr lange nicht mehr gesehen, oder davon gehört. Aber das muss noch kein schlechtes Zeichen sein." "Ein Zeichen..." sagte Bastian leicht ironisch " Guck mal was ich hier habe." und zeigte Opui die Stelle, wo ihn das Gift der weißen Schlange getroffen hatte. Als Opui sie sah bekam er große Augen. "Ohh -" staunte er "aber - das kann nicht sein?! Wo hast du es bekommen?" Bastian erzählte die gesamte Geschichte seiner Ankunft. "Die Weiße muss wissen, was sie tut..." murmelte Opui, der immer noch gebannt auf das erhabene Zeichen an Bastians Schulter starrte. "Was bedeutet das denn nun?!" fragte Bastian schon leicht ärgerlich. "Es weist dich als einen der ‚Auserwählten' aus. - Es ist Zeichen größter Not für das Auryn." Opui schwieg wieder. "Dann ist es keine Verätzung. Hat es irgendeine Macht, oder Schutzfunktion?" "Nein - nein. Wie dieses Zeichen gesetzt wird, wusste ich nicht. Es muss dafür aber mehrere Wege geben, glaube ich. Ob es irgendeine Macht hat? Hm, ich spüre nichts. Als ich selber noch ein Kind war, habe ich meinen Urgroßvater einmal darüber sprechen hören. Ich weiß nicht recht, vielleicht akkumuliert sich eine Art Schutzfunktion? Zur Zeit macht es dich nur kenntlich. Ich rate dir aber, erzähle niemandem, was dein Zeichen bedeutet. Die, die davon wissen, werden dich ohnehin finden. Und es sind nicht nur Geschöpfe dabei, die dir helfen wollen. Und noch gibt es dir keine Macht. Noch!" schloß Opui. "Und wie geht es nun weiter?" fragte Bastian etwas verunsichert. Opui gab einen missmutigen Ton von sich. "Bastian! Manchmal frage ich mich, ob du dich nicht bloß dumm stellst." "Ich stelle mich nicht dumm!" verteidigte sich Bastian. "Ich will ja bloß mal wissen, was als nächstes auf mich zukommt. Ein Zauberer müsste doch so was wissen." - "Junger Freund. Ich bin kein Wahrsager und auch kein Hellseher! Niemand weiß was auf dich zukommt, das liegt allein an dir." gab Opui zu verstehen. "Du lügst doch." schrie Bastian zornig "Es ist alles vorherbestimmt in der Unendlichen Geschichte." - "Wirklich?" fragte Opui. Bastian winkte verzweifelt ab. Zum ersten Mal wünschte er sich, der Leser dieser Geschichte zu sein. Dann könnte er einfach ein paar Seiten vorblättern. Und wer mochte seine Geschichte in diesem Augenblick lesen? Bastian versuchte es sich vorzustellen. - Er bekam eine Gänsehaut. "Du kannst es doch." sagte Opui aufmunternd. "OK." sagte Bastian "Ich gebe den Kindlichen Jägern heute Abend ihre Geschichte zurück. Und dann muss ich weiter. Was ist meine nächste Aufgabe?" - "Sehr gut, sehr gut." sagte Opui "Du suchst eine neue Aufgabe? Finde einen Weg über die Schlucht." "Was? Das geht doch gar nicht!" entgegnete Bastian. "Doch. Du wirst einen finden." antwortete Opui. "Sag mir lieber, wie ich den Weg nach Amarganth finde!" gab Bastian zurück. Doch Opui wollte gehen. Er lächelte vielsagend. "Opui!" schrie Bastian. Der Zauberer löste sich vor Bastians Augen in Luft auf. Ein warmes Lüftchen bließ Bastian ins Gesicht. Dann war er wieder allein. Hatte Opui das ernst gemeint? Er sollte einen Weg über diese gottverdammte Schlucht ohne Wiederkehr finden. Zumindest wusste er jetzt, was das Zeichen an seiner Schulter bedeutete. Er sollte ein ‚Auserwählter' sein, was immer das auch bedeuten mochte. Er wusste noch nicht einmal, was er dafür tun sollte. Das Gegrübel verursachte ihm Kopfschmerzen. Irgendwie schienen die Dinge, die Opui ihm mitzuteilen hatte, wichtig zu sein. Doch alles ergab zum jetzigen Zeitpunkt keinen rechten Sinn. Bastian trottete weiter. Er wünschte sich den Opferplatz der Kindlichen Jäger zu finden. Von dort musste der Rückweg einfacher sein. Es dauerte nicht lange und er fand tatsächlich wonach er suchte. Verwundert stellte Bastian fest, dass schon längere Zeit niemand mehr hier gewesen sein musste. Er versuchte den Weg zurück zu finden. Von hier aus ging es wirklich leichter. Er erinnerte sich, nach den grünen Beeren zu suchen, die hier wachsen sollten. |
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